Es
war ein angenehmer Frühlingstag. Die Sonne schien und die Vögel
sangen. Jakob Schmickler steuerte seinen alten Golf die Straße am
Mühlenberg entlang in Richtung Löhndorf. Er war auf dem Weg nach
Krechelheim. Erst vor einer halben Stunde hatte ihn der
dortige Reiterhofbesitzer Eberhard Stellwart angerufen und von einem
Reitunfall im Harterscheid berichtet. Eigentlich nichts
spektakuläres, wenn auch tragisch für den Betroffenen.
Bald
hatte er Löhndorf erreicht und bog nach rechts in den Ort ein. Die
Straße führte durch eine Senke an einem Kleintiergehege vorbei.
Dann kam die große Kreuzung vor dem Kriegerdenkmal. Danach ging es
erst langsam, dann stetig bergauf. Oben auf dem Hügel begannen die
Felder. Nach etwa einem Kilometer erreichte Schmickler den
ihm mittlerweile gutbekannten Reiterhof bei Krechelheim. Er parkte
den Wagen vor den Ställen und machte sich auf die Suche nach Herrn
Stellwart. Dieser kam gerade mit dem Traktor um die Ecke, auf der
Gabel einen riesigen Heuballen. Als er Schmickler sah, stellte er das
Gefährt ab und begrüßte ihn.
„Herr
Schmickler, freut mich, sie zu sehen.“
„Gleichfalls“,
erwiderte Schmickler. „Was gibt es denn so dringendes?“
„Gestern
ist ein Reiter im Wald tödlich verunglückt. Die Polizei glaubt,
dass es ein Unfall war.“
„Und
warum glauben sie das nicht?“
„Ich
weiß es nicht genau. Es ist nur so eine Ahnung.“
„Können
sie das etwas präziser ausdrücken?“
„Nun
ja. Der Verstorbene ist Hauptmann außer Dienst Wolfgang von Frick,
ein ehemaliger Bundeswehroffizier. Er war erst seit kurzem hier und
ist erst vor ein paar Monaten ins Nachbardorf gezogen. Sein Pferd
hatte er mitgebracht. Ich kenne das Tier nicht, aber es scheint ein
sehr ruhiges und braves Pferd zu sein. Gestern ist der Hauptmann wie
so oft in den Wald geritten. Seine Lieblingsstrecke war der Weg nach
Königsfeld und zurück. Etwa eine halbe Stunde nachdem er
losgeritten war, kam sein Pferd alleine hier an. Wir haben uns sofort
auf die Suche gemacht und fanden seine Leiche auf dem Weg liegend. Es
muss ihn mitten im Galopp aus dem Sattel gerissen haben. An der
Stelle wo er lag stehen die Bäume recht nah am Fahrweg und ein
paar Äste hängen über dem Weg, aber keiner hängt tief genug, um
jemanden aus dem Sattel zu fegen.“
„Könnte
sich das Pferd erschreckt haben?“, fragte Schmickler dazwischen.
„Das
wäre möglich, aber ich glaube es nicht.“
„Warum
nicht?“
„Zunächst,
weil ich seltsame Spuren an einem Baum fand. An einer Stelle war die
Rinde rund um den Stamm auf einer Breite von etwa zehn Zentimetern
abgeschabt, als ob da ein Seil gehangen hätte. Ich habe das der
Polizei gezeigt, aber die meinte, das hätte nichts zu bedeuten.
Irgendein Tier könnte das abgefressen haben, sagten sie. Aber so
weit nach oben reichen Rehe nicht ran und welches andere Tier käme
sonst in Frage?“
„Wie
hoch war denn die Stelle?“
„Etwa
2,50 Meter über dem Erdboden.“
„Das
ist schon etwas seltsam. Und was ist das andere?“
„Nun
ja, ich habe den Eindruck, dass Hauptmann von Frick sich irgendwie
bedroht gefühlt hat. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass er in
seinem Reitstiefel ein Kampfmesser trug. Er hatte sich sogar ein
separates Fach dafür in den Stiefel einnähen lassen. Die Polizei
hat das natürlich auch bemerkt, aber sie meinten, das wäre wohl nur
eine Marotte von ihm gewesen. Als alter Soldat wäre er halt an den
Umgang mit Waffen gewöhnt gewesen, und so weiter.“
„Wissen
sie, wo der Hauptmann stationiert gewesen war?“
„Nein,
er hat darüber nicht gesprochen. Er war ja nun auch pensioniert.
Allerdings hat er einmal erwähnt, dass er lange in Afghanistan
gewesen sei.“
„In
Afghanistan?“, hakte Schmickler nach. „Nun, das ist ja heutzutage
auch nichts ungewöhnliches mehr.“
„Mir
ist auch aufgefallen, dass der Hauptmann immer etwas nervös gewesen
war. Kam jemand unbemerkt in den Stall, erschrak er sich.“
„Nun
ja, das heißt aber auch noch nichts.“
Schmickler
dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er: „Können sie mir die
Unfallstelle zeigen?“
„Natürlich.
Nehmen wir meinen Wagen oder ihren?“
„Meiner
steht gerade hier. Steigen sie ein.“
Die
Wege um den Reiterhof herum waren recht holprig. Deshalb entschloss
sich Schmickler die Teerstraße Richtung Löhndorf zu fahren und kurz
vor dem Ort links abzubiegen. Sie überquerten die Autobahn und
fuhren dann ein Stück parallel zu der Schnellstraße, bis sie an den
breiten Waldweg nach Königsfeld kamen. Sie bogen in den Waldweg ein
und fuhren langsam über den ungeteerten, aber gut gepflegten
Schotterweg. Bald hatten sie die fragliche Stelle erreicht.
Schmickler stoppte den Wagen und beide stiegen aus.
„Hier
war es“, rief Herr Stellwart. „Hier hat er gelegen.“ Dabei
zeigte er auf eine Stelle am Wegesrand.
„Und
wo ist die Seilspur?“, fragte Schmickler.
„Dort
oben“, sagte Herr Stellwart und wies auf einen Baum an dessen Stamm
in etwa 2,50 Metern Höhe die Rinde auf einer Breite von beinahe zehn
Zentimetern abgerieben war. Schmickler betrachtete die Stelle genau.
Dann überquerte er den Weg und inspizierte die Bäume auf der
anderen Straßenseite. Bald hatte er die Gegenstelle gefunden. Dort
war zwar kaum Abrieb zu erkennen. Dafür waren allerdings von einem
der darüber hängenden Äste ein paar Zweige und Blätter abgerissen
worden. Schmickler untersuchte auch die anderen Äste. Auch an ihnen
waren Rissspuren zu erkennen. Es dauerte beinahe zehn Minuten, bis er
die Unfallstelle komplett untersucht hatte. Dann ergriff Herr
Stellwart das Wort.
„Also,
was denken sie?“, fragte er mit gespanntem Gesichtsausdruck.
„Es
sieht so aus, als ob hier ein Seil quer über den Weg gespannt worden
sei. Das Seil war an diesem Baum fixiert, aber an jenem nur um den
Stamm geworfen, vermutlich, damit man es zuziehen konnte. Das Seil
hing nicht direkt über dem Weg, sondern weiter oben und wurde durch
die über dem Weg hängenden Äste und Zweige verdeckt. Der Täter
hat die Falle so angelegt, dass das Seil für einen sich nähernden
Reiter kaum zu entdecken war. Im entscheidenden Moment hat er es dann
angezogen, sodass sich die lockere Schlinge um den Stamm gelegt hat,
während er das lose Ende über diesen abgesägten Baumstumpf dort
geworfen hat. Der sich im Galopp nähernde Reiter hat das
herabsinkende Seil zu spät bemerkt und wurde aus dem Sattel gehoben,
während das Pferd unbehelligt weiterlief. Dann hat der Täter das
Seil abgenommen und ist geflüchtet. Den Reiter hat er einfach liegen
lassen.“
„Toll!“,
rief Herr Stellwart. „Ich frage mich, warum Kommissar Saudow nicht
darauf gekommen ist.“
„Saudow?“,
horchte Schmickler auf. „Hat der die Ermittlungen übernommen?“
„Wieder
einmal“, entgegnete Herr Stellwart. „Aber für ihn schien der
Fall klar zu sein: Ein unglücklicher Reitunfall. Sowas passiert
halt.“
„Ich
gebe zu, dass die Spuren auch anders interpretiert werden können.
Aber es sollte reichen, um weitere Nachforschungen anzustellen.“
„Warum
aber glaubt Saudow an einen Unfall?“
„Das
könnte politische Gründe haben.“
„Wie
meinen sie das jetzt?“, fragte Herr Stellwart und schaute
irritiert.
„Die
Landesregierung hat doch bei der letzten Wahl versprochen die
Kriminalitätsrate zu senken.“
„Ja,
und?“
„Deshalb
wäre es aus politischen Gründen wohl opportuner, wenn es sich um
einen Unfall handeln würde und nicht um Mord.“
„Das
meinen sie doch nicht ernst?!?“
„Warum
nicht? Bei der Arbeitslosenstatistik läuft es so ähnlich. Da werden
Arbeitslose in sinnlose Fortbildungen gesteckt und
schon gelten sie nicht mehr als arbeitslos. Die Quote sinkt und alle
sprechen von einem Aufschwung.“
„Aber
das ist doch glatter Betrug!“
„Mag
sein, aber wen interessiert das?“
Schmickler
sah Herrn Stellwart an und zuckte mit den Schultern.
„Und
was werden wir jetzt machen?“, fragte Herr Stellwart.
„Schwierig.
Wir haben so gut wie keine Anhaltspunkte. Gehen wir mal davon aus,
dass der Mord geplant war, dann muss es ein Motiv geben. Wir wissen
aber nicht genug über den Hauptmann, um ein Motiv zu erkennen.
Eigentlich wissen wir über ihn nur, dass er ein Messer im Stiefel
trug und in Afghanistan war. Außerdem können wir vermuten, dass
jemand der einen solchen Mord plant die Gewohnheiten seines Opfers
genau kennt. Es kann aber niemand aus dieser Gegend sein, denn der
Hauptmann war noch nicht lange genug hier, um sich Feinde zu machen.
Kommt also eher ein Auswärtiger in Frage. Haben sie in letzter Zeit
zufällig jemanden verdächtiges auf dem Reiterhof oder in der Nähe
beobachtet?“
„Nein,
eigentlich nicht“, überlegte Herr Stellwart. „Aber auf dem Hof
ist ja immer viel Betrieb.“
„Achten
sie bitte in den nächsten Tagen darauf, ob sich irgendwo ein Fremder
aufhält. Möglicherweise will der Täter nachprüfen, ob er wirklich
Erfolg hatte oder ob sein Opfer vielleicht doch noch lebt. Übrigens:
Kann man hier in der Nähe irgendwo übernachten?“
„Ein
Hotel haben wir nicht, aber es gibt im Nachbardorf ein paar
Ferienwohnungen und einige wenige Fremdenzimmer. Warum fragen
sie?“
„Der
Täter hat sein Opfer wohl genau beobachtet. Daher vermute ich, dass
er sich im Dorf eingemietet hat. Ich werde einfach mal so tun, als
wollte ich ein Zimmer mieten. Vielleicht finde ich etwas heraus.“
Herr
Stellwart nickte.
Schmickler
überlegte weiter: „Dann bleibt noch das Seil. Für so eine Aufgabe
kann man keinen Bindfaden nehmen. Dafür braucht man ein
Bergsteigerseil, dass auch ruckartige Stöße auffangen kann, ohne zu
reißen. Solch ein Seil sollte mindestens zehn Millimeter Durchmesser
haben. Diese Seile sind relativ teuer und man bekommt sie nur in
Trekkingläden. Davon gibt es im Ahrtal nur einen Laden, in
Ahrweiler. Allerdings ist in Bonn auch ein recht großer
Trekkinghändler. Ich sollte mich mal umhören, vielleicht hat in
letzter Zeit jemand ein solches Seil gekauft.“
„Glauben
sie, dass wir so den Täter finden?“
„Um
ehrlich zu sein: Bergsteigerseile werden zwar nicht so häufig
gekauft, aber die Läden führen auch nicht Buch über alle Kunden.
Außerdem kommen Leute oft von weit her, wenn sie etwas spezielles
brauchen. Wenn wir Pech haben, dann haben in den letzten Tagen
dutzende Leute Seile gekauft. Es wäre reiner Zufall, wenn wir etwas
fänden.“
„Aber
trotzdem haben wir ein paar Anhaltspunkte“, sagte Herr Stellwart.
„Nun
ja, es ist besser als nichts“, entgegnete Schmickler. „Ich werde
jetzt mal ins Dorf fahren und so tun, als wollte ich ein Zimmer
mieten. Danach fahre ich nach Ahrweiler und schaue in den
Trekkingladen.“
Zwei
Stunden später. Müde ließ sich Schmickler auf die Bank im
Wartehäuschen der Bushaltestelle fallen. Im Dorf gab es etwa ein
halbes Dutzend Ferienwohnungen und Zimmer zu mieten und er hatte sie
alle abgeklappert. Um diese Jahreszeit waren zwar nur
wenige Touristen im Ort, aber dafür waren einige Ferienwohnungen
an Handwerker vermietet, die auf einer Großbaustelle an der
Autobahnbrücke über dem Ahrtal arbeiteten. Freilich war es zu
früh, um irgendeinen Verdächtigen definitiv auszuschließen, aber
da es keine offensichtlichen Berührungspunkte zwischen den
Handwerkern und dem Toten gab, würde er die Handwerker
zunächst mal nicht weiter beachten. Zwei der Ferienwohnungen waren
an holländische Familien vermietet; diese dürften wohl auf
jeden Fall als Verdächtige ausscheiden. Blieb nur noch ein seltsamer
Ausländer, der seit zwei Wochen in einem Ferienzimmer in
einem Haus nahe beim Sportplatz wohnte. Die Vermieterin, obwohl
sehr gesprächig, wusste kaum etwas über den Mann. Er hatte einen
recht dunklen Teint und schien Moslem zu sein. Außerdem hatte er
einen arabischen Namen. Er sprach sogar ein paar Worte Deutsch,
obwohl er erst seit kurzem in Deutschland war. Was er in dieser
Gegend wollte, wusste die Vermieterin nicht.
Schmickler
entschloss sich den Mann zu überprüfen. Vielleicht konnte er sogar
ein Foto von ihm machen. Er erhob sich von der Bank und lief um die
nächste Straßenecke, wo er sein Auto geparkt hatte. Er öffnete den
Kofferraum und entnahm eine Fototasche, wie sie gerne von
Bildreportern verwendet wird. Mit der Tasche in der Hand setzte er
sich ans Steuer seines Wagens. Er legte die Tasche auf den
Beifahrersitz, öffnete sie und nahm eine mittelgroße, digitale
Kamera mit Zoomobjektiv heraus. Damit konnte er auch auf große
Entfernungen noch recht gute Fotos machen. Er legte die Kamera neben
die Tasche und startete dann den Motor des Wagens. Nach nur einer
Minute Fahrt hatte er einen kleinen Parkplatz am Sportplatz erreicht.
Er drehte den Wagen so, dass er die Haustür des Hauses in dem der
seltsame Feriengast wohnte gut sehen konnte und machte die Kamera
bereit. Jetzt hieß es warten, bis der Verdächtige ihm vor die Linse
kommen würde.
Es
dauerte bis zum frühen Abend. Dann endlich kam der Mann die Straße
entlang und steuerte auf sein Quartier zu. Unauffällig zückte
Schmickler die Kamera und machte ein paar Aufnahmen. Nachdem der
Verdächtige im Haus verschwunden war, betrachtete er die Bilder
auf dem Kamera-Display. Die Aufnahmen waren etwas unscharf, aber
zumindest ein Bild war brauchbar. Schnell fuhr er in seine Wohnung in
Bad Neuenahr, druckte das Bild über seinen Rechner aus und fuhr mit
dem Ausdruck weiter zu dem Trekkingladen in Ahrweiler. Der
dortige Verkäufer war zunächst misstrauisch, aber Schmickler konnte
ihn überzeugen, dass er einer ernsten Sache auf der Spur war.
Er zeigte ihm das Foto und der Verkäufer erkannte den Mann sofort
wieder.
„Ja,
der hat vor zwei Tagen ein Seil gekauft. Sogar ein besonders
stabiles“, bestätigte er.
Schmickler
bedankte sich und verließ den Laden wieder. Jetzt war er sicher,
dass er den Täter gefunden hatte. Er setzte sich in seinen Wagen und
fuhr zurück zum Reiterhof nach Krechelheim. Dort traf er Herrn
Stellwart vor dem Stall und dieser hörte gespannt zu, als Schmickler
von seiner Recherche erzählte. Dann betrachtete er das Foto
eingehend.
„Ich
kann mich zwar nicht erinnern diesen Mann hier gesehen zu haben, aber
das heißt nichts. Hier kommen ja so viele Leute her“, sagte Herr
Stellwart.
„Die
Vermieterin meinte, dass der Mann Moslem sei. Er nennt sich Ismail
und hat beim Frühstück den gekochten Schinken und die
Wurst nicht angerührt. Übrigens war ein gewisser Ismail der siebte
Nachfolger Mohammeds, der sich mit einigen Getreuen konfessionell
abgespalten hat. In der islamischen Welt gelten die Ismailiten
seither als Abweichler. Auf Ismail berief sich seinerzeit auch der
Anführer einer geheimnisumwitterten Sekte, die zur Zeit der
Kreuzfahrer im Nahen Osten zahlreiche Mordanschläge verübt haben
soll. Man nannte sie die Assassinen“, fügte Schmickler hinzu.
„Glauben
sie, dass der Mann aus Afghanistan stammt?“, fragte Herr Stellwart
nachdenklich.
„Darauf
wollte ich hinaus“, sagte Schmickler. „Der Hauptmann war ja auch
in Afghanistan. Offenbar gibt es eine Verbindung zwischen den beiden.
Vielleicht war es ein Mord aus Rache.“
„Aber
wie passt das zusammen?“
„Das
sollten wir besser ihn fragen.“
„Sie
meinen, wir gehen einfach so zu dem Mann hin und fragen ihn, warum er
Hauptmann von Frick umgebracht hat?“
„Warum
nicht? Wir fahren zu ihm rüber. Er dürfte jetzt zuhause sein.“
Herr
Stellwart fühlte sich unbehaglich. „Wäre es nicht Zeit Kommissar
Saudow anzurufen?“
„Und
was wollen sie dem sagen?“
„Stimmt
auch wieder. Der glaubt uns doch sowieso nicht. Also fahren wir!“
Fünf
Minuten später standen sie vor der Tür des Hauses nahe dem
Sportplatz. Die Vermieterin erkannte Schmickler sofort wieder und war
ziemlich irritiert, dass er ihren Feriengast besuchen wollte. Leicht
verwirrt führte sie die beiden Männer bis vor die Zimmertür. Dann
klopfte sie und rief: „Herr Ismail, hier sind zwei Herren, die sie
sprechen möchten.“
Es
dauerte einen Moment, dann öffnete sich die Tür und ein arabisch
aussehender Mann in europäischer Kleidung erschien im Türrahmen.
„Kommen
sie herein“, sagte er. „Ich habe sie erwartet.“
Schmickler
und Herr Stellwart betraten den Raum und sahen sich unauffällig um.
Er war wie ein Ferienzimmer eingerichtet. Persönliche
Gegenstände lagen nur wenige herum. Der Mann wies auf zwei Stühle
und setzte sich selbst auf das Bett. Dann blickte er seine Besucher
wortlos an.
„Verstehen
sie deutsch oder möchten sie lieber Englisch mit uns sprechen?“,
fragte Schmickler.
Der
Mann entschied sich für Englisch.
„Warum
haben sie Hauptmann von Frick ermordet?“, fragte Schmickler direkt.
„Sind
sie von der Polizei?“, fragte der Mann.
„Nein,
ich bin Jakob Schmickler, Privatdetektiv und das ist Herr Stellwart,
der Besitzer des Reiterhofes auf dem der Ermordete sein Pferd stehen
hatte.“
„Wie
haben sie mich so schnell gefunden?“
„Sie
haben ein paar deutliche Spuren hinterlassen. Stammen sie aus
Afghanistan?“
„Ja,
ich komme aus einem Dorf im Hilmendtal.“
„Vermute
ich richtig, dass sie Hauptmann von Frick aus Rache ermordet haben?“
„Dieser
Mann hat mein Dorf mit allen seinen Bewohnern ausgelöscht. Er ist
für den Tod von mehr als fünfzig Menschen verantwortlich.“
„Bitte
erzählen sie uns, was passiert ist“, bat Schmickler.
„Es
ist jetzt beinahe fünf Jahre her. Damals war dieser Mann Anführer
eines Trupps Soldaten, die auf der Suche nach Taliban in unser Dorf
kamen. Unser Clanchef sagte ihnen, dass es hier keine Taliban gäbe
und dass sie wieder gehen sollten. Aber sie ignorierten ihn einfach.
Dann durchsuchten sie alle Häuser und trieben die Bewohner auf dem
Dorfplatz zusammen. Sie rissen den Frauen die Schleier von den
Gesichtern. Als sich eine wehrte, hat er sie einfach erschossen.
Nachdem der Schuss gefallen war, eröffneten auch die anderen
Soldaten das Feuer auf die Menschen. Ich selbst stand in der Mitte.
Als die Männer und Frauen neben mir tot zusammenbrachen, ließ auch
ich mich fallen und tat so, als ob ich tot sei. Stundenlang lag ich
zwischen den Leichnamen meiner Stammesangehörigen. Schließlich
verschwanden die Soldaten wieder. Als ich sicher war, dass sie
abzogen, verfolgte ich sie bis zu einem Militärstützpunkt. Vor dem
Stützpunkt waren Zelte mit Flüchtlingen. Ich mischte mich unter die
Leute und erfuhr, dass es Deutsche Soldaten waren, die mein Dorf
zerstört hatten. Es gelang mir auch herauszufinden, wer
verantwortlich war für den Überfall. Es war nicht einfach die Spur
des Mannes bis hierher zu verfolgen. Fünf Jahre hat es gedauert, bis
ich ihn aufgespürt hatte. Immer wieder hat er geschafft mich
abzuhängen, aber immer habe ich seine Spur wiedergefunden.
Vor etwa zwei Wochen kam ich in dieses Dorf. Ich mietete mich hier
ein und begann den Mann zu beobachten. Bald schon wusste ich, dass er
immer in den Wald ritt. Ich suchte eine geeignete Stelle und besorgte
ein stabiles Seil. Das Seil in den Ästen zu tarnen, war kein
Problem. Als er vorbeigaloppierte, brauchte ich das Seil nur noch
anzuziehen.“
„Warum
sind sie damals oder auch heute nicht zur Polizei gegangen?“,
fragte Schmickler.
„Würden
die mir glauben?“
„Stimmt
auch wieder.“
„Glauben
sie mir denn?“
Schmickler
blickte kurz zu Herrn Stellwart. Dann sagte er: „Sie sehen nicht
aus wie ein gewöhnlicher Mörder.“
„Was
werden sie jetzt tun, wo sie mich gefunden haben?“
Wieder
blickten Schmickler und Herr Stellwart einander an.
Nach
einer Weile sagte Schmickler: „Kriege sind immer brutal und
grausam. Wir haben hier schon so lange keinen Krieg mehr gehabt, dass
wir uns das gar nicht mehr vorstellen können. Dennoch mischt sich
unsere Regierung in Kriege am anderen Ende der Welt ein, die uns
weder betreffen noch etwas angehen. Hauptmann von Frick war
einer von denen, welche die Schmutzarbeit verrichten. Ich persönlich
fühle mich nicht berufen mich in dieser Angelegenheit als Richter
aufzuspielen.“
Herr
Stellwart nickte zustimmend: „Wenn die Polizei ohnehin von einem
Reitunfall ausgeht, sollten wir uns nicht einmischen.“
„Und
im übrigen hat uns Kommissar Saudow oft genug gesagt, wir sollen uns
aus der Polizeiarbeit raushalten“, fügte Schmickler grinsend
hinzu.
„Merkwürdig
ist nur, dass in der Presse nichts berichtet wurde“, sagte Herr
Stellwart.
„Die
Menschen in Europa erfahren kaum etwas darüber, wie der Krieg in
Afghanistan wirklich ist, schon gar nicht aus der Presse. Als die
Taliban noch regierten, hatten wir wenigstens Ruhe und Sicherheit.
Seit dem Einmarsch der Amerikaner ist das jedoch vorbei“,
antwortete der Besucher vom Hindukusch.
Schmickler
und Stellwart verabschiedeten sich von dem Mann der sich Ismail
nannte und verließen das Haus. Auf dem Weg zum Wagen fragte Herr
Stellwart: „Haben wir das Richtige getan?“
Schmickler
antwortete nachdenklich: „Es gibt hin und wieder Fälle, da ist
meine Sympathie eher auf Seiten der Täter, als bei den Opfern. Das
hier ist so ein Fall.“