Es war ein sonniger Frühlingstag. Jakob
Schmickler saß auf der Terrasse des Reiterhofes in
Sinzig-Krechelheim und genoss die ersten warmen Sonnenstrahlen
nach einem langen und harten Winter. Von Zeit zu Zeit nippte er an
seiner Kaffeetasse. Seit drei Monaten hatte er keinen Tropfen Alkohol
mehr angerührt; ungefähr genau so lange, wie er von seiner Exfrau
nichts mehr gehört hatte. Dafür lief das Geschäft in den letzten
Wochen recht gut, auch wenn es keine spektakulären Fälle
waren: Ein paar untreue Ehepartner, ein Diebstahl in einem
Handwerksbetrieb und ein Fall von Betriebsspionage. Aber die
Bezahlung war akzeptabel gewesen, sodass er seine Mietschulden
hatte begleichen können. Jetzt befand er sich wieder an dem Ort, wo
er vor bald einem Jahr seinen ersten großen Fall hatte. Er war auf
dem Reiterhof, auf dem er damals die Mordserie aufgeklärt
hatte. Diesmal gab es jedoch nichts für ihn zu tun. Sein Besuch war
rein privater Natur. Er hatte es gewagt sich ein paar Stunden frei zu
nehmen und in der Gastwirtschaft des Reiterhofes einen Kaffee zu
trinken.
Auf dem
Reitplatz herrschte reges Treiben. Auch Pferde und Reiter waren froh
nach dem langen Winter wieder im Freien trainieren zu können. Die
Terrasse der Gastwirtschaft war gut besucht. Seit kurzem gab es dort
sogar einen kleinen Wintergarten für Regentage und für die Raucher,
die seit Inkrafttreten des neuen Gaststättengesetzes nicht mehr im
eigentlichen Gastraum rauchen durften.
Schmickler
beobachtete den Hofhund, der gerade um die Ecke kam und einen
riesigen Knochen im Maul hatte. Der Knochen sah schon recht alt und
halbverwest aus. Wo hatte der Hund den wohl ausgegraben? Das Tier
setzte sich wenige Meter von Schmickler entfernt in eine Ecke und
begann den Knochen zu benagen. Was das wohl für ein Knochen war? Der
Größe nach zu urteilen, musste er mindestens von einer Kuh stammen.
Oder gar von einem Pferd? Auch die anderen Besucher der Terrasse
waren auf den Hund aufmerksam geworden und schauten interessiert
zu, wie dieser den Knochen bearbeitete. Plötzlich sprang ein Mann
auf, eilte auf den Hund zu und versuchte ihm seine Beute zu
entreißen.
„Gib
den Knochen her! Braver Hund! Aus!“, rief der Mann und zog mit
beiden Händen an dem Knochen.
„Was
wollen sie denn mit dem Ding?“, mischte sich Schmickler ein.
„Lassen sie doch dem Hund seinen Spaß.“
„Spaß?“,
antwortete der Mann entrüstet. „Wissen sie, was das für ein
Knochen ist? Ich bin fast sicher, er stammt von einem Menschen.“
Schmickler
erstarrte für einen Moment. Dann hatte der Mann es geschafft dem
Hund den Knochen abzujagen. Er drehte ihn hin und her und
betrachtete ihn sorgfältig von allen Seiten. Schmickler stand auf
und ging zu dem Mann hinüber.
„Wieso
sind sie so sicher, dass es ein menschlicher Knochen ist?“, fragte
er.
„Ich
bin Arzt“, antwortete der Mann. „Ich erkenne einen
Menschenknochen, wenn ich einen sehe. Dieser hier stammt vom Unterarm
eines Menschen. Wo der Hund den wohl her hat?“
„Ich
sah, dass er aus dieser Richtung gekommen ist“, sagte Schmickler
und zeigte auf den Weg, der zwischen Stall und Reithalle in Richtung
der Weiden führte.
Schmickler
und der Arzt schauten sich kurz an. Dann gingen sie beide los in die
Richtung, aus der der Hund eben gekommen war. Ihnen folgten einige
andere Terrassenbesucher, während der Hund um sie herumsprang
und seinen Knochen wiederhaben wollte.
Am Ende des
Weges befand sich rechts hinter dem Stall ein Misthaufen. An den
Spuren konnte man erkennen, dass der Hund hier herumgewühlt
hatte. Schmickler holte eine Schaufel aus der nahen Stallgasse und
stocherte damit im Misthaufen herum. Dabei legte er einige
halbverweste Gliedmaßen eines Menschen frei. In diesem Misthaufen
lag eine Leiche! Sofort machten sich die Anwesenden daran die Leiche
auszugraben. Sie brauchten auch nicht lange, denn der obere
Teil des Misthaufens war im Rahmen der üblichen Arbeiten abgetragen
worden, sodass der tote Körper nur noch von einer dünnen Schicht
bedeckt war.
Die
allgemeine Aufruhr hatte inzwischen noch mehr Zuschauer angelockt,
darunter auch den Hofbesitzer, der nun mit bleichem Gesicht auf die
Leiche starrte.
„Kennen
sie die Tote, Herr Stellwart?“, fragte Schmickler und zeigte auf
die halbverweste Leiche, die nur noch entfernt an einen Menschen
erinnerte. Lediglich an ihrer Kleidung konnte man feststellen, dass
sie eine Frau gewesen ist. Auch das Gesicht war nur noch mit Mühe zu
erkennen.
„Das
ist Frau Nelles. Sie ist vor einem halben Jahr spurlos verschwunden.
Die Polizei hat damals den ganzen Mühlenberg nach ihr abgesucht,
weil sie dort zuletzt gesehen wurde. Wie kommt sie denn hierher?“
„Hatte
sie mit dem Reiterhof zu tun?“, fragte Schmickler.
„Die
Familie hat hier ein Pferd eingestellt“, antwortete Herr Stellwart.
„Wann
genau ist sie verschwunden?“
„Am
26., ziemlich genau vor sechs Monaten. Die Polizei und die Familie
haben sie seitdem offiziell als vermisst gemeldet.“
„Doktor“,
wandte sich Schmickler an den Arzt. „Was denken sie, woran Frau
Nelles gestorben ist?“
Der Arzt
beugte sich hinunter zu dem toten Körper.
„Genau
kann man das erst nach einer ordentlichen Obduktion sagen. Aber so
wie der Leichnam beschaffen ist, würde ich sagen, dass die schweren
Quetschungen im Brustbereich die Todesursache waren. Man findet diese
Art von Verletzungen bei Verkehrstoten, die von einem schweren
Fahrzeug überrollt wurden. Das Fahrzeug muss allerdings sehr
breite Reifen gehabt haben.“
„Wie
ein Traktor, zum Beispiel?“, fragte Schmickler, dessen Blick gerade
auf ein solches Gefährt gefallen war, dass hinter der Reithalle
parkte.
„Ja,
ein Traktor käme in Frage.“
„Herr
Stellwart“, wandte sich Schmickler nun an den Hofbesitzer. „Was
ist hier auf dem Hof an diesem fraglichen 26. passiert?“
„Das
weiß ich zufällig noch genau, weil die Polizei wenige Tage später
auch hier bei uns nach Frau Nelles gesucht hat. An diesem Tag haben
wir die beiden oberen Stallgassen ausgemistet.“
„Hat
es dabei irgendwelche besonderen Vorkommnisse gegeben?“
„Unser
Stallmeister spürte beim Rangieren mit dem Traktor plötzlich so
einen merkwürdigen Stoß. Das hat er mir erzählt. Aber wir fanden
keine Ursache dafür.“
„Wo
finde ich ihn?“
„Der
ist oben im Stall beim Füttern. Aber nein, da kommt er gerade.“
Von der
allgemeinen Aufruhr angelockt, hatte sich der Stallmeister genähert,
um zu schauen, was los war. Wenige Sekunden später stand auch er vor
dem Leichnam.
„Ich
erinnere mich, dass ich mit dem Traktor rangiert habe, nachdem ich
eine große Schaufel Mist aus dem Stall herausgefahren hatte“,
erzählte er. „Beim Rückwärtsfahren spürte ich plötzlich einen
Stoß. Ich drehte mich um, aber da war nichts. Ich setzte weiter
zurück und dann kam so ein seltsames Knirschen. Ich dachte schon,
der Traktor hätte einen Motorschaden, aber der Motor lief ja weiter.
Ich setzte den Traktor wieder nach vorne und fuhr zur Seite, damit
Herr Stellwart Platz hatte. Der kam nämlich gerade mit dem anderen
Traktor und wollte eine Schaufel Mist auf dem Misthaufen abladen. Das
hat er dann auch getan. Ich stieg danach kurz ab und untersuchte den
Traktor auf Schäden, konnte aber nichts finden. Also haben wir
weitergearbeitet.“
„Haben
sie nichts gehört? Einen Schrei, zum Beispiel?“
„Nein,
der Motor war so laut.“
Ein wenig
betreten schauten Herr Stellwart und der Stallmeister einander an.
Dieser unerwartete Leichenfund hatte sie beide sehr mitgenommen.
„Dann
war es wohl ein sehr tragischer Unfall“, sagte Schmickler. „Jetzt
müssen wir aber die Polizei anrufen.“
Es dauerte
beinahe eine halbe Stunde, bis ein Streifenwagen zur Stelle war und
erst nach einer weiteren halben Stunde war endlich die
Spurensicherung da. Zu sichern gab es jedoch nichts mehr, denn der
tote Körper war so von Neugierigen umringt, das auch die geringste
Spur verwischt sein musste. Schmickler saß jetzt wieder auf der
Terrasse und schlürfte seinen Kaffee. Für ihn gab es nichts mehr zu
tun, denn der Fall war gelöst, bevor er überhaupt zu einem Fall
werden konnte.
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