Montag, 4. Dezember 2017

Die Leiche im Misthaufen

Es war ein sonniger Frühlingstag. Jakob Schmickler saß auf der Terrasse des Reiterhofes in Sinzig-Krechel­heim und genoss die ersten warmen Sonnenstrahlen nach einem langen und harten Winter. Von Zeit zu Zeit nippte er an seiner Kaffeetasse. Seit drei Monaten hatte er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt; ungefähr genau so lange, wie er von seiner Exfrau nichts mehr gehört hatte. Dafür lief das Geschäft in den letzten Wo­chen recht gut, auch wenn es keine spektakulären Fälle waren: Ein paar untreue Ehepartner, ein Dieb­stahl in einem Handwerksbetrieb und ein Fall von Betriebsspionage. Aber die Bezahlung war akzeptabel ge­wesen, sodass er seine Mietschulden hatte begleichen können. Jetzt befand er sich wieder an dem Ort, wo er vor bald einem Jahr seinen ersten großen Fall hatte. Er war auf dem Reiterhof, auf dem er damals die Mord­serie aufgeklärt hatte. Diesmal gab es jedoch nichts für ihn zu tun. Sein Besuch war rein privater Natur. Er hatte es gewagt sich ein paar Stunden frei zu nehmen und in der Gastwirtschaft des Reiterhofes einen Kaffee zu trinken.
Auf dem Reitplatz herrschte reges Treiben. Auch Pferde und Reiter waren froh nach dem langen Winter wieder im Freien trainieren zu können. Die Terrasse der Gastwirtschaft war gut besucht. Seit kurzem gab es dort sogar einen kleinen Wintergarten für Regentage und für die Raucher, die seit Inkrafttreten des neuen Gaststättengesetzes nicht mehr im eigentlichen Gastraum rauchen durften.
Schmickler beobachtete den Hofhund, der gerade um die Ecke kam und einen riesigen Knochen im Maul hatte. Der Knochen sah schon recht alt und halbverwest aus. Wo hatte der Hund den wohl ausgegraben? Das Tier setzte sich wenige Meter von Schmickler entfernt in eine Ecke und begann den Knochen zu benagen. Was das wohl für ein Knochen war? Der Größe nach zu urteilen, musste er mindestens von einer Kuh stammen. Oder gar von einem Pferd? Auch die anderen Besucher der Terrasse waren auf den Hund auf­merksam geworden und schauten interessiert zu, wie dieser den Knochen bearbeitete. Plötzlich sprang ein Mann auf, eilte auf den Hund zu und versuchte ihm seine Beute zu entreißen.
„Gib den Knochen her! Braver Hund! Aus!“, rief der Mann und zog mit beiden Händen an dem Knochen.
„Was wollen sie denn mit dem Ding?“, mischte sich Schmickler ein. „Lassen sie doch dem Hund seinen Spaß.“
„Spaß?“, antwortete der Mann entrüstet. „Wissen sie, was das für ein Knochen ist? Ich bin fast sicher, er stammt von einem Menschen.“
Schmickler erstarrte für einen Moment. Dann hatte der Mann es geschafft dem Hund den Knochen ab­zu­jagen. Er drehte ihn hin und her und betrachtete ihn sorgfältig von allen Seiten. Schmickler stand auf und ging zu dem Mann hinüber.
„Wieso sind sie so sicher, dass es ein menschlicher Knochen ist?“, fragte er.
„Ich bin Arzt“, antwortete der Mann. „Ich erkenne einen Menschenknochen, wenn ich einen sehe. Dieser hier stammt vom Unterarm eines Menschen. Wo der Hund den wohl her hat?“
„Ich sah, dass er aus dieser Richtung gekommen ist“, sagte Schmickler und zeigte auf den Weg, der zwischen Stall und Reithalle in Richtung der Weiden führte.
Schmickler und der Arzt schauten sich kurz an. Dann gingen sie beide los in die Richtung, aus der der Hund eben gekommen war. Ihnen folgten einige andere Terrassenbesucher, während der Hund um sie herum­sprang und seinen Knochen wiederhaben wollte.
Am Ende des Weges befand sich rechts hinter dem Stall ein Misthaufen. An den Spuren konnte man er­kennen, dass der Hund hier herumgewühlt hatte. Schmickler holte eine Schaufel aus der nahen Stallgasse und stocherte damit im Misthaufen herum. Dabei legte er einige halbverweste Gliedmaßen eines Menschen frei. In diesem Misthaufen lag eine Leiche! Sofort machten sich die Anwesenden daran die Leiche aus­zu­graben. Sie brauchten auch nicht lange, denn der obere Teil des Misthaufens war im Rahmen der üblichen Arbeiten abgetragen worden, sodass der tote Körper nur noch von einer dünnen Schicht bedeckt war.
Die allgemeine Aufruhr hatte inzwischen noch mehr Zuschauer angelockt, darunter auch den Hofbesitzer, der nun mit bleichem Gesicht auf die Leiche starrte.
„Kennen sie die Tote, Herr Stellwart?“, fragte Schmickler und zeigte auf die halbverweste Leiche, die nur noch entfernt an einen Menschen erinnerte. Lediglich an ihrer Kleidung konnte man feststellen, dass sie eine Frau gewesen ist. Auch das Gesicht war nur noch mit Mühe zu erkennen.
„Das ist Frau Nelles. Sie ist vor einem halben Jahr spurlos verschwunden. Die Polizei hat damals den ganzen Mühlenberg nach ihr abgesucht, weil sie dort zuletzt gesehen wurde. Wie kommt sie denn hierher?“
„Hatte sie mit dem Reiterhof zu tun?“, fragte Schmickler.
„Die Familie hat hier ein Pferd eingestellt“, antwortete Herr Stellwart.
„Wann genau ist sie verschwunden?“
„Am 26., ziemlich genau vor sechs Monaten. Die Polizei und die Familie haben sie seitdem offiziell als ver­misst gemeldet.“
„Doktor“, wandte sich Schmickler an den Arzt. „Was denken sie, woran Frau Nelles gestorben ist?“
Der Arzt beugte sich hinunter zu dem toten Körper.
„Genau kann man das erst nach einer ordentlichen Obduktion sagen. Aber so wie der Leichnam beschaffen ist, würde ich sagen, dass die schweren Quetschungen im Brustbereich die Todesursache waren. Man findet diese Art von Verletzungen bei Verkehrstoten, die von einem schweren Fahrzeug überrollt wurden. Das Fahr­zeug muss allerdings sehr breite Reifen gehabt haben.“
„Wie ein Traktor, zum Beispiel?“, fragte Schmickler, dessen Blick gerade auf ein solches Gefährt gefallen war, dass hinter der Reithalle parkte.
„Ja, ein Traktor käme in Frage.“
„Herr Stellwart“, wandte sich Schmickler nun an den Hofbesitzer. „Was ist hier auf dem Hof an diesem fraglichen 26. passiert?“
„Das weiß ich zufällig noch genau, weil die Polizei wenige Tage später auch hier bei uns nach Frau Nelles gesucht hat. An diesem Tag haben wir die beiden oberen Stallgassen ausgemistet.“
„Hat es dabei irgendwelche besonderen Vorkommnisse gegeben?“
„Unser Stallmeister spürte beim Rangieren mit dem Traktor plötzlich so einen merkwürdigen Stoß. Das hat er mir erzählt. Aber wir fanden keine Ursache dafür.“
„Wo finde ich ihn?“
„Der ist oben im Stall beim Füttern. Aber nein, da kommt er gerade.“
Von der allgemeinen Aufruhr angelockt, hatte sich der Stallmeister genähert, um zu schauen, was los war. Wenige Sekunden später stand auch er vor dem Leichnam.
„Ich erinnere mich, dass ich mit dem Traktor rangiert habe, nachdem ich eine große Schaufel Mist aus dem Stall herausgefahren hatte“, erzählte er. „Beim Rückwärtsfahren spürte ich plötzlich einen Stoß. Ich drehte mich um, aber da war nichts. Ich setzte weiter zurück und dann kam so ein seltsames Knirschen. Ich dachte schon, der Traktor hätte einen Motorschaden, aber der Motor lief ja weiter. Ich setzte den Traktor wieder nach vorne und fuhr zur Seite, damit Herr Stellwart Platz hatte. Der kam nämlich gerade mit dem anderen Traktor und wollte eine Schaufel Mist auf dem Misthaufen abladen. Das hat er dann auch getan. Ich stieg danach kurz ab und untersuchte den Traktor auf Schäden, konnte aber nichts finden. Also haben wir weiter­gearbeitet.“
„Haben sie nichts gehört? Einen Schrei, zum Beispiel?“
„Nein, der Motor war so laut.“
Ein wenig betreten schauten Herr Stellwart und der Stallmeister einander an. Dieser unerwartete Leichen­fund hatte sie beide sehr mitgenommen.
„Dann war es wohl ein sehr tragischer Unfall“, sagte Schmickler. „Jetzt müssen wir aber die Polizei an­rufen.“
Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, bis ein Streifenwagen zur Stelle war und erst nach einer weiteren halben Stunde war endlich die Spurensicherung da. Zu sichern gab es jedoch nichts mehr, denn der tote Körper war so von Neugierigen umringt, das auch die geringste Spur verwischt sein musste. Schmickler saß jetzt wieder auf der Terrasse und schlürfte seinen Kaffee. Für ihn gab es nichts mehr zu tun, denn der Fall war gelöst, bevor er überhaupt zu einem Fall werden konnte.

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