Montag, 4. Dezember 2017

Die verschollenen Reiter

Jakob Schmickler saß gerade auf dem Klo, als das Telefon klingelte. Das war nichts besonderes. Irgendwie schafften es die Leute immer wieder gerade dann anzurufen, wenn er etwas persönliches zu erledigen hatte. Deshalb hatte er in Griffnähe einen zusätzlichen Sprechapparat installiert. Er griff nach dem Hörer und mel­de­te sich routinemäßig mit „Jakob Schmickler, Ermittlungen aller Art.“ Am anderen Ende der Leitung war Eberhard Stellwart, Besitzer eines Reiterhofes aus dem Nachbarort.
„Herr Schmickler, ich brauche wieder mal ihre Hilfe“, tönte es aus der Hörmuschel. „Hier auf dem Reiterhof geschehen unheimliche Dinge. Kinder verschwinden spurlos.“
Schmickler schluckte. Dann fragte er: „Wie genau passiert das?“
„Ich habe im Sommer doch immer Gruppen von Ferienkindern zum Reiterurlaub auf meinem Hof. Mit denen reiten wir fast täglich ins Gelände. Nach jedem Ausritt läuft das letzte Pferd ohne Reiter nach Hause. Jetzt sind schon drei Mädchen verschwunden und niemand weiß wohin. Zuerst dachte ich, die Kinder wollen mich nur veräppeln, aber jetzt mache ich mir wirklich Sorgen.“
„Haben sie die Polizei verständigt?“
„Ja, aber die sagen, sie können erst was machen, wenn die Kinder vierundzwanzig Stunden verschwunden sind. Im übrigen tauchen die bestimmt bald wieder auf, meinten sie.“
„Ich komme gleich zu ihnen. In einer halben Stunde bin ich da“, antwortete Schmickler und legte den Hörer auf.
Fast genau nach der versprochenen Zeit stand Jakob Schmickler auf dem Reiterhof im benachbarten Kre­chel­heim und schüttelte einem sorgenvollen Herrn Stellwart die Hand.
„Danke, dass sie so schnell gekommen sind“, sagte Herr Stellwart.
„Wie genau passiert das Verschwinden?“, fragte Schmickler.
„Nun ja“, begann Herr Stellwart. „Wir reiten mit den Ferienkindern aus; ich, meine Frau oder eines der älte­ren Mädchen die hier Reitunterricht geben und wenn wir zurückkommen, hat das letzte Pferd keinen Reiter mehr. Es läuft einfach so mit leerem Sattel hinter den anderen Pferden her.“
„Reiten sie immer dieselbe Route?“
„Nicht immer, aber in den letzten Tagen sind wir fast nur im Harterscheid gewesen. Die anderen Wege sind derzeit schlecht passierbar.“
„Haben sie nur Mädchen hier oder auch Jungs?“
„Eigentlich nur Mädchen bis etwa vierzehn Jahren. Jungs in dem Alter reiten nicht so gerne.“
„Ist irgendjemandem in der Gruppe etwas aufgefallen?“
„Nein, niemand hat etwas bemerkt. Die Kinder sind wohl auch nicht runtergefallen, denn sonst hätten sie ja gerufen, oder?“
„Wahrscheinlich“, antwortete Schmickler. „Sind die Mädchen vielleicht freiwillig abgestiegen?“
„Möglich, aber warum sollten sie?“
„Das müssen wir herausfinden. Wissen sie, wo genau die Kinder verschwunden sind?“
„Nein, aber wir können es ungefähr eingrenzen. Es muss auf einem kurvigen Waldweg passiert sein. Vorher waren noch alle Kinder zusammen und danach beginnt eine Galoppstrecke. Da schauen wir immer erst, ob alle da sind.“
„Wie lang ist der Waldweg?“
„Etwa zweihundert Meter. Soll ich sie dort hinführen?“
„Ja, fahren wir sofort los.“
Schmickler und Herr Stellwart stiegen in Schmicklers alten Golf und fuhren los. Nach einer viertel Stunde hatten sie den Walweg erreicht. Schmickler parkte den Wagen und sie gingen zu Fuß weiter. Sorgfältig betrachtete Schmickler den Weg, der sich durch das Unterholz schlängelte. Die Ränder waren an beiden Seiten zugewachsen. Es war, als ob man durch einen kurvigen Tunnel aus Gestrüpp lief. Schmickler unter­suchte die Ränder des Weges recht sorgfältig. Es dauerte recht lange, bis er endlich auf ein paar umge­knickte Zweige stieß.
„Hier ist jemand durchgelaufen“, sagte er und zeigte auf die gebrochenen Hölzer. Dann schob er ein paar Äste zur Seite und verschwand im Gebüsch. Herr Stellwart folgte ihm. Gemeinsam gingen sie vorsichtig über den weichen Waldboden. Schmickler hatte seine Augen starr auf die Erde gerichtet und bewegte sich behände vorwärts. Nach beinahe hundert Metern lichtete sich das Unterholz und sie erreichten einen Weg. Schmickler betrachtete den aufgeweichten Boden. Dann entschied er nach links zu gehen. Nach einigen hundert Metern endete der Weg unmerklich zwischen dem Gestrüpp. Schmickler drang jedoch weiter durch die Büsche, bis er und Herr Stellwart schließlich auf eine kleine Lichtung mitten im Wald gelangten. Plötz­lich zog Herr Stellwart Schmickler am Arm und wies mit der Hand auf die andere Seite der Lichtung. Sie trauten ihren Augen kaum: Dort standen zwei Zelte! Und vor den Zelten spielten die verschwundenen Mäd­chen! Die Kinder erschraken, als sie die beiden Männer bemerkten. Froh und wütend zugleich lief Herr Stellwart auf sie zu.
„Da seid ihr ja!“, rief er aufgeregt. „Was treibt ihr denn hier mitten im Wald? Was ist passiert? Warum seid ihr so plötzlich verschwunden? Wir haben uns Sorgen um euch gemacht!“
Ein wenig betreten schauten die Kinder auf Herrn Stellwart.
„Ich schlage vor, wir setzen uns und lassen die Kinder erzählen“, sagte Schmickler. Die Mädchen und Herr Stellwart folgten seinem Vorschlag und Sekunden später erzählte eine von ihnen, was passiert war.
„Wir wollten ein paar Tage im Wald campieren, ohne Aufsicht der Erwachsenen. Wir haben die Sachen heimlich hierher gebracht und die Zelte aufgebaut. Dann sind wir während der Ausritte einfach abgestiegen und haben das Pferd alleine weiterlaufen lassen.“
„Aber Kinder!“, rief Herr Stellwart. „Ist euch eigentlich klar, was ihr für Aufregung verursacht habt? Ich war kurz davor die Polizei und eure Eltern anzurufen!“
„Es tut uns sehr leid“, sagten die Mädchen ein wenig betreten. „Wir wollten doch nur ein paar Tage für uns sein.“
Schmickler erhob sich aus dem Gras: „Nun, da die Kinder wieder da sind, ist meine Arbeit hier wohl er­le­digt. Ich schlage vor, ihr packt eure Sachen in mein Auto und wir fahren zum Reiterhof zurück.“
Herr Stellwart nickte zustimmend. Was für ein Glück, dass die Angelegenheit so schnell aufgeklärt werden konnte. Nachdenklich schaute er auf Jakob Schmickler. ‚Was für ein Glück, dass es Leute wie ihn gibt’, dachte er.

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