Montag, 4. Dezember 2017

Todesritt nach Königsfeld

Es war ein angenehmer Frühlingstag. Die Sonne schien und die Vögel sangen. Jakob Schmickler steuerte seinen alten Golf die Straße am Mühlenberg entlang in Richtung Löhndorf. Er war auf dem Weg nach Kre­chel­heim. Erst vor einer halben Stunde hatte ihn der dortige Reiterhofbesitzer Eberhard Stellwart angerufen und von einem Reitunfall im Harterscheid berichtet. Eigentlich nichts spektakuläres, wenn auch tragisch für den Betroffenen.
Bald hatte er Löhndorf erreicht und bog nach rechts in den Ort ein. Die Straße führte durch eine Senke an einem Kleintiergehege vorbei. Dann kam die große Kreuzung vor dem Kriegerdenkmal. Danach ging es erst langsam, dann stetig bergauf. Oben auf dem Hügel begannen die Felder. Nach etwa einem Kilometer er­reich­te Schmickler den ihm mittlerweile gutbekannten Reiterhof bei Krechelheim. Er parkte den Wagen vor den Ställen und machte sich auf die Suche nach Herrn Stellwart. Dieser kam gerade mit dem Traktor um die Ecke, auf der Gabel einen riesigen Heuballen. Als er Schmickler sah, stellte er das Gefährt ab und begrüßte ihn.
„Herr Schmickler, freut mich, sie zu sehen.“
„Gleichfalls“, erwiderte Schmickler. „Was gibt es denn so dringendes?“
„Gestern ist ein Reiter im Wald tödlich verunglückt. Die Polizei glaubt, dass es ein Unfall war.“
„Und warum glauben sie das nicht?“
„Ich weiß es nicht genau. Es ist nur so eine Ahnung.“
„Können sie das etwas präziser ausdrücken?“
„Nun ja. Der Verstorbene ist Hauptmann außer Dienst Wolfgang von Frick, ein ehemaliger Bundeswehroffizier. Er war erst seit kurzem hier und ist erst vor ein paar Monaten ins Nachbardorf gezogen. Sein Pferd hatte er mitgebracht. Ich kenne das Tier nicht, aber es scheint ein sehr ruhiges und braves Pferd zu sein. Gestern ist der Hauptmann wie so oft in den Wald geritten. Seine Lieblingsstrecke war der Weg nach Königsfeld und zurück. Etwa eine halbe Stunde nachdem er losgeritten war, kam sein Pferd alleine hier an. Wir haben uns sofort auf die Suche gemacht und fanden seine Leiche auf dem Weg liegend. Es muss ihn mitten im Galopp aus dem Sattel gerissen haben. An der Stelle wo er lag stehen die Bäume recht nah am Fahr­weg und ein paar Äste hängen über dem Weg, aber keiner hängt tief genug, um jemanden aus dem Sattel zu fegen.“
„Könnte sich das Pferd erschreckt haben?“, fragte Schmickler dazwischen.
„Das wäre möglich, aber ich glaube es nicht.“
„Warum nicht?“
„Zunächst, weil ich seltsame Spuren an einem Baum fand. An einer Stelle war die Rinde rund um den Stamm auf einer Breite von etwa zehn Zentimetern abgeschabt, als ob da ein Seil gehangen hätte. Ich habe das der Polizei gezeigt, aber die meinte, das hätte nichts zu bedeuten. Irgendein Tier könnte das abgefressen haben, sagten sie. Aber so weit nach oben reichen Rehe nicht ran und welches andere Tier käme sonst in Frage?“
„Wie hoch war denn die Stelle?“
„Etwa 2,50 Meter über dem Erdboden.“
„Das ist schon etwas seltsam. Und was ist das andere?“
„Nun ja, ich habe den Eindruck, dass Hauptmann von Frick sich irgendwie bedroht gefühlt hat. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass er in seinem Reitstiefel ein Kampfmesser trug. Er hatte sich sogar ein separates Fach dafür in den Stiefel einnähen lassen. Die Polizei hat das natürlich auch bemerkt, aber sie meinten, das wäre wohl nur eine Marotte von ihm gewesen. Als alter Soldat wäre er halt an den Umgang mit Waffen ge­wöhnt gewesen, und so weiter.“
„Wissen sie, wo der Hauptmann stationiert gewesen war?“
„Nein, er hat darüber nicht gesprochen. Er war ja nun auch pensioniert. Allerdings hat er einmal erwähnt, dass er lange in Afghanistan gewesen sei.“
„In Afghanistan?“, hakte Schmickler nach. „Nun, das ist ja heutzutage auch nichts ungewöhnliches mehr.“
„Mir ist auch aufgefallen, dass der Hauptmann immer etwas nervös gewesen war. Kam jemand unbemerkt in den Stall, erschrak er sich.“
„Nun ja, das heißt aber auch noch nichts.“
Schmickler dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er: „Können sie mir die Unfallstelle zeigen?“
„Natürlich. Nehmen wir meinen Wagen oder ihren?“
„Meiner steht gerade hier. Steigen sie ein.“
Die Wege um den Reiterhof herum waren recht holprig. Deshalb entschloss sich Schmickler die Teerstraße Richtung Löhndorf zu fahren und kurz vor dem Ort links abzubiegen. Sie überquerten die Autobahn und fuhren dann ein Stück parallel zu der Schnellstraße, bis sie an den breiten Waldweg nach Königsfeld kamen. Sie bogen in den Waldweg ein und fuhren langsam über den ungeteerten, aber gut gepflegten Schotterweg. Bald hatten sie die fragliche Stelle erreicht. Schmickler stoppte den Wagen und beide stiegen aus.
„Hier war es“, rief Herr Stellwart. „Hier hat er gelegen.“ Dabei zeigte er auf eine Stelle am Wegesrand.
„Und wo ist die Seilspur?“, fragte Schmickler.
„Dort oben“, sagte Herr Stellwart und wies auf einen Baum an dessen Stamm in etwa 2,50 Metern Höhe die Rinde auf einer Breite von beinahe zehn Zentimetern abgerieben war. Schmickler betrachtete die Stelle genau. Dann überquerte er den Weg und inspizierte die Bäume auf der anderen Straßenseite. Bald hatte er die Gegenstelle gefunden. Dort war zwar kaum Abrieb zu erkennen. Dafür waren allerdings von einem der darüber hängenden Äste ein paar Zweige und Blätter abgerissen worden. Schmickler untersuchte auch die anderen Äste. Auch an ihnen waren Rissspuren zu erkennen. Es dauerte beinahe zehn Minuten, bis er die Unfallstelle komplett untersucht hatte. Dann ergriff Herr Stellwart das Wort.
„Also, was denken sie?“, fragte er mit gespanntem Gesichtsausdruck.
„Es sieht so aus, als ob hier ein Seil quer über den Weg gespannt worden sei. Das Seil war an diesem Baum fixiert, aber an jenem nur um den Stamm geworfen, vermutlich, damit man es zuziehen konnte. Das Seil hing nicht direkt über dem Weg, sondern weiter oben und wurde durch die über dem Weg hängenden Äste und Zweige verdeckt. Der Täter hat die Falle so angelegt, dass das Seil für einen sich nähernden Reiter kaum zu entdecken war. Im entscheidenden Moment hat er es dann angezogen, sodass sich die lockere Schlinge um den Stamm gelegt hat, während er das lose Ende über diesen abgesägten Baumstumpf dort ge­worfen hat. Der sich im Galopp nähernde Reiter hat das herabsinkende Seil zu spät bemerkt und wurde aus dem Sattel gehoben, während das Pferd unbehelligt weiterlief. Dann hat der Täter das Seil abgenommen und ist geflüchtet. Den Reiter hat er einfach liegen lassen.“
„Toll!“, rief Herr Stellwart. „Ich frage mich, warum Kommissar Saudow nicht darauf gekommen ist.“
„Saudow?“, horchte Schmickler auf. „Hat der die Ermittlungen übernommen?“
„Wieder einmal“, entgegnete Herr Stellwart. „Aber für ihn schien der Fall klar zu sein: Ein unglücklicher Reitunfall. Sowas passiert halt.“
„Ich gebe zu, dass die Spuren auch anders interpretiert werden können. Aber es sollte reichen, um weitere Nachforschungen anzustellen.“
„Warum aber glaubt Saudow an einen Unfall?“
„Das könnte politische Gründe haben.“
„Wie meinen sie das jetzt?“, fragte Herr Stellwart und schaute irritiert.
„Die Landesregierung hat doch bei der letzten Wahl versprochen die Kriminalitätsrate zu senken.“
„Ja, und?“
„Deshalb wäre es aus politischen Gründen wohl opportuner, wenn es sich um einen Unfall handeln würde und nicht um Mord.“
„Das meinen sie doch nicht ernst?!?“
„Warum nicht? Bei der Arbeitslosenstatistik läuft es so ähnlich. Da werden Arbeitslose in sinnlose Fort­bil­dun­gen gesteckt und schon gelten sie nicht mehr als arbeitslos. Die Quote sinkt und alle sprechen von einem Aufschwung.“
„Aber das ist doch glatter Betrug!“
„Mag sein, aber wen interessiert das?“
Schmickler sah Herrn Stellwart an und zuckte mit den Schultern.
„Und was werden wir jetzt machen?“, fragte Herr Stellwart.
„Schwierig. Wir haben so gut wie keine Anhaltspunkte. Gehen wir mal davon aus, dass der Mord geplant war, dann muss es ein Motiv geben. Wir wissen aber nicht genug über den Hauptmann, um ein Motiv zu erkennen. Eigentlich wissen wir über ihn nur, dass er ein Messer im Stiefel trug und in Afghanistan war. Außerdem können wir vermuten, dass jemand der einen solchen Mord plant die Gewohnheiten seines Opfers genau kennt. Es kann aber niemand aus dieser Gegend sein, denn der Hauptmann war noch nicht lange genug hier, um sich Feinde zu machen. Kommt also eher ein Auswärtiger in Frage. Haben sie in letzter Zeit zufällig jemanden verdächtiges auf dem Reiterhof oder in der Nähe beobachtet?“
„Nein, eigentlich nicht“, überlegte Herr Stellwart. „Aber auf dem Hof ist ja immer viel Betrieb.“
„Achten sie bitte in den nächsten Tagen darauf, ob sich irgendwo ein Fremder aufhält. Möglicherweise will der Täter nachprüfen, ob er wirklich Erfolg hatte oder ob sein Opfer vielleicht doch noch lebt. Übrigens: Kann man hier in der Nähe irgendwo übernachten?“
„Ein Hotel haben wir nicht, aber es gibt im Nachbardorf ein paar Ferienwohnungen und einige wenige Frem­denzimmer. Warum fragen sie?“
„Der Täter hat sein Opfer wohl genau beobachtet. Daher vermute ich, dass er sich im Dorf eingemietet hat. Ich werde einfach mal so tun, als wollte ich ein Zimmer mieten. Vielleicht finde ich etwas heraus.“
Herr Stellwart nickte.
Schmickler überlegte weiter: „Dann bleibt noch das Seil. Für so eine Aufgabe kann man keinen Bindfaden nehmen. Dafür braucht man ein Bergsteigerseil, dass auch ruckartige Stöße auffangen kann, ohne zu reißen. Solch ein Seil sollte mindestens zehn Millimeter Durchmesser haben. Diese Seile sind relativ teuer und man bekommt sie nur in Trekkingläden. Davon gibt es im Ahrtal nur einen Laden, in Ahrweiler. Allerdings ist in Bonn auch ein recht großer Trekkinghändler. Ich sollte mich mal umhören, vielleicht hat in letzter Zeit jemand ein solches Seil gekauft.“
„Glauben sie, dass wir so den Täter finden?“
„Um ehrlich zu sein: Bergsteigerseile werden zwar nicht so häufig gekauft, aber die Läden führen auch nicht Buch über alle Kunden. Außerdem kommen Leute oft von weit her, wenn sie etwas spezielles brauchen. Wenn wir Pech haben, dann haben in den letzten Tagen dutzende Leute Seile gekauft. Es wäre reiner Zufall, wenn wir etwas fänden.“
„Aber trotzdem haben wir ein paar Anhaltspunkte“, sagte Herr Stellwart.
„Nun ja, es ist besser als nichts“, entgegnete Schmickler. „Ich werde jetzt mal ins Dorf fahren und so tun, als wollte ich ein Zimmer mieten. Danach fahre ich nach Ahrweiler und schaue in den Trekkingladen.“
Zwei Stunden später. Müde ließ sich Schmickler auf die Bank im Wartehäuschen der Bushaltestelle fallen. Im Dorf gab es etwa ein halbes Dutzend Ferienwohnungen und Zimmer zu mieten und er hatte sie alle ab­ge­klappert. Um diese Jahreszeit waren zwar nur wenige Touristen im Ort, aber dafür waren einige Ferien­woh­nun­gen an Handwerker vermietet, die auf einer Großbaustelle an der Autobahnbrücke über dem Ahrtal ar­beiteten. Freilich war es zu früh, um irgendeinen Verdächtigen definitiv auszuschließen, aber da es keine offensichtlichen Berührungspunkte zwischen den Handwerkern und dem Toten gab, würde er die Hand­wer­ker zunächst mal nicht weiter beachten. Zwei der Ferienwohnungen waren an holländische Familien ver­mietet; diese dürften wohl auf jeden Fall als Verdächtige ausscheiden. Blieb nur noch ein seltsamer Aus­län­der, der seit zwei Wochen in einem Ferienzimmer in einem Haus nahe beim Sportplatz wohnte. Die Vermie­terin, obwohl sehr gesprächig, wusste kaum etwas über den Mann. Er hatte einen recht dunklen Teint und schien Moslem zu sein. Außerdem hatte er einen arabischen Namen. Er sprach sogar ein paar Worte Deutsch, obwohl er erst seit kurzem in Deutschland war. Was er in dieser Gegend wollte, wusste die Ver­mieterin nicht.
Schmickler entschloss sich den Mann zu überprüfen. Vielleicht konnte er sogar ein Foto von ihm machen. Er erhob sich von der Bank und lief um die nächste Straßenecke, wo er sein Auto geparkt hatte. Er öffnete den Kofferraum und entnahm eine Fototasche, wie sie gerne von Bildreportern verwendet wird. Mit der Tasche in der Hand setzte er sich ans Steuer seines Wagens. Er legte die Tasche auf den Beifahrersitz, öffnete sie und nahm eine mittelgroße, digitale Kamera mit Zoomobjektiv heraus. Damit konnte er auch auf große Entfernungen noch recht gute Fotos machen. Er legte die Kamera neben die Tasche und startete dann den Motor des Wagens. Nach nur einer Minute Fahrt hatte er einen kleinen Parkplatz am Sportplatz erreicht. Er drehte den Wagen so, dass er die Haustür des Hauses in dem der seltsame Feriengast wohnte gut sehen konnte und machte die Kamera bereit. Jetzt hieß es warten, bis der Verdächtige ihm vor die Linse kommen würde.
Es dauerte bis zum frühen Abend. Dann endlich kam der Mann die Straße entlang und steuerte auf sein Quar­tier zu. Unauffällig zückte Schmickler die Kamera und machte ein paar Aufnahmen. Nachdem der Ver­dächtige im Haus verschwunden war, betrachtete er die Bilder auf dem Kamera-Display. Die Aufnahmen waren etwas unscharf, aber zumindest ein Bild war brauchbar. Schnell fuhr er in seine Wohnung in Bad Neuenahr, druckte das Bild über seinen Rechner aus und fuhr mit dem Ausdruck weiter zu dem Trekking­laden in Ahrweiler. Der dortige Verkäufer war zunächst misstrauisch, aber Schmickler konnte ihn über­zeugen, dass er einer ernsten Sache auf der Spur war. Er zeigte ihm das Foto und der Verkäufer erkannte den Mann sofort wieder.
„Ja, der hat vor zwei Tagen ein Seil gekauft. Sogar ein besonders stabiles“, bestätigte er.
Schmickler bedankte sich und verließ den Laden wieder. Jetzt war er sicher, dass er den Täter gefunden hatte. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zurück zum Reiterhof nach Krechelheim. Dort traf er Herrn Stellwart vor dem Stall und dieser hörte gespannt zu, als Schmickler von seiner Recherche erzählte. Dann betrachtete er das Foto eingehend.
„Ich kann mich zwar nicht erinnern diesen Mann hier gesehen zu haben, aber das heißt nichts. Hier kommen ja so viele Leute her“, sagte Herr Stellwart.
„Die Vermieterin meinte, dass der Mann Moslem sei. Er nennt sich Ismail und hat beim Frühstück den ge­koch­ten Schinken und die Wurst nicht angerührt. Übrigens war ein gewisser Ismail der siebte Nachfolger Mohammeds, der sich mit einigen Getreuen konfessionell abgespalten hat. In der islamischen Welt gelten die Ismailiten seither als Abweichler. Auf Ismail berief sich seinerzeit auch der Anführer einer geheimnis­umwitterten Sekte, die zur Zeit der Kreuzfahrer im Nahen Osten zahlreiche Mordanschläge verübt haben soll. Man nannte sie die Assassinen“, fügte Schmickler hinzu.
„Glauben sie, dass der Mann aus Afghanistan stammt?“, fragte Herr Stellwart nachdenklich.
„Darauf wollte ich hinaus“, sagte Schmickler. „Der Hauptmann war ja auch in Afghanistan. Offenbar gibt es eine Verbindung zwischen den beiden. Vielleicht war es ein Mord aus Rache.“
„Aber wie passt das zusammen?“
„Das sollten wir besser ihn fragen.“
„Sie meinen, wir gehen einfach so zu dem Mann hin und fragen ihn, warum er Hauptmann von Frick umgebracht hat?“
„Warum nicht? Wir fahren zu ihm rüber. Er dürfte jetzt zuhause sein.“
Herr Stellwart fühlte sich unbehaglich. „Wäre es nicht Zeit Kommissar Saudow anzurufen?“
„Und was wollen sie dem sagen?“
„Stimmt auch wieder. Der glaubt uns doch sowieso nicht. Also fahren wir!“
Fünf Minuten später standen sie vor der Tür des Hauses nahe dem Sportplatz. Die Vermieterin erkannte Schmickler sofort wieder und war ziemlich irritiert, dass er ihren Feriengast besuchen wollte. Leicht verwirrt führte sie die beiden Männer bis vor die Zimmertür. Dann klopfte sie und rief: „Herr Ismail, hier sind zwei Herren, die sie sprechen möchten.“
Es dauerte einen Moment, dann öffnete sich die Tür und ein arabisch aussehender Mann in europäischer Kleidung erschien im Türrahmen.
„Kommen sie herein“, sagte er. „Ich habe sie erwartet.“
Schmickler und Herr Stellwart betraten den Raum und sahen sich unauffällig um. Er war wie ein Ferien­zim­mer eingerichtet. Persönliche Gegenstände lagen nur wenige herum. Der Mann wies auf zwei Stühle und setzte sich selbst auf das Bett. Dann blickte er seine Besucher wortlos an.
„Verstehen sie deutsch oder möchten sie lieber Englisch mit uns sprechen?“, fragte Schmickler.
Der Mann entschied sich für Englisch.
„Warum haben sie Hauptmann von Frick ermordet?“, fragte Schmickler direkt.
„Sind sie von der Polizei?“, fragte der Mann.
„Nein, ich bin Jakob Schmickler, Privatdetektiv und das ist Herr Stellwart, der Besitzer des Reiterhofes auf dem der Ermordete sein Pferd stehen hatte.“
„Wie haben sie mich so schnell gefunden?“
„Sie haben ein paar deutliche Spuren hinterlassen. Stammen sie aus Afghanistan?“
„Ja, ich komme aus einem Dorf im Hilmendtal.“
„Vermute ich richtig, dass sie Hauptmann von Frick aus Rache ermordet haben?“
„Dieser Mann hat mein Dorf mit allen seinen Bewohnern ausgelöscht. Er ist für den Tod von mehr als fünf­zig Menschen verantwortlich.“
„Bitte erzählen sie uns, was passiert ist“, bat Schmickler.
„Es ist jetzt beinahe fünf Jahre her. Damals war dieser Mann Anführer eines Trupps Soldaten, die auf der Suche nach Taliban in unser Dorf kamen. Unser Clanchef sagte ihnen, dass es hier keine Taliban gäbe und dass sie wieder gehen sollten. Aber sie ignorierten ihn einfach. Dann durchsuchten sie alle Häuser und trieben die Bewohner auf dem Dorfplatz zusammen. Sie rissen den Frauen die Schleier von den Gesichtern. Als sich eine wehrte, hat er sie einfach erschossen. Nachdem der Schuss gefallen war, eröffneten auch die anderen Soldaten das Feuer auf die Menschen. Ich selbst stand in der Mitte. Als die Männer und Frauen neben mir tot zusammenbrachen, ließ auch ich mich fallen und tat so, als ob ich tot sei. Stundenlang lag ich zwischen den Leichnamen meiner Stammesangehörigen. Schließlich verschwanden die Soldaten wieder. Als ich sicher war, dass sie abzogen, verfolgte ich sie bis zu einem Militärstützpunkt. Vor dem Stützpunkt waren Zelte mit Flüchtlingen. Ich mischte mich unter die Leute und erfuhr, dass es Deutsche Soldaten waren, die mein Dorf zerstört hatten. Es gelang mir auch herauszufinden, wer verantwortlich war für den Überfall. Es war nicht einfach die Spur des Mannes bis hierher zu verfolgen. Fünf Jahre hat es gedauert, bis ich ihn auf­gespürt hatte. Immer wieder hat er geschafft mich abzuhängen, aber immer habe ich seine Spur wieder­ge­funden. Vor etwa zwei Wochen kam ich in dieses Dorf. Ich mietete mich hier ein und begann den Mann zu beobachten. Bald schon wusste ich, dass er immer in den Wald ritt. Ich suchte eine geeignete Stelle und besorgte ein stabiles Seil. Das Seil in den Ästen zu tarnen, war kein Problem. Als er vorbeigaloppierte, brauchte ich das Seil nur noch anzuziehen.“
„Warum sind sie damals oder auch heute nicht zur Polizei gegangen?“, fragte Schmickler.
„Würden die mir glauben?“
„Stimmt auch wieder.“
„Glauben sie mir denn?“
Schmickler blickte kurz zu Herrn Stellwart. Dann sagte er: „Sie sehen nicht aus wie ein gewöhnlicher Mörder.“
„Was werden sie jetzt tun, wo sie mich gefunden haben?“
Wieder blickten Schmickler und Herr Stellwart einander an.
Nach einer Weile sagte Schmickler: „Kriege sind immer brutal und grausam. Wir haben hier schon so lange keinen Krieg mehr gehabt, dass wir uns das gar nicht mehr vorstellen können. Dennoch mischt sich unsere Regierung in Kriege am anderen Ende der Welt ein, die uns weder betreffen noch etwas angehen. Haupt­mann von Frick war einer von denen, welche die Schmutzarbeit verrichten. Ich persönlich fühle mich nicht berufen mich in dieser Angelegenheit als Richter aufzuspielen.“
Herr Stellwart nickte zustimmend: „Wenn die Polizei ohnehin von einem Reitunfall ausgeht, sollten wir uns nicht einmischen.“
„Und im übrigen hat uns Kommissar Saudow oft genug gesagt, wir sollen uns aus der Polizeiarbeit raus­halten“, fügte Schmickler grinsend hinzu.
„Merkwürdig ist nur, dass in der Presse nichts berichtet wurde“, sagte Herr Stellwart.
„Die Menschen in Europa erfahren kaum etwas darüber, wie der Krieg in Afghanistan wirklich ist, schon gar nicht aus der Presse. Als die Taliban noch regierten, hatten wir wenigstens Ruhe und Sicherheit. Seit dem Ein­marsch der Amerikaner ist das jedoch vorbei“, antwortete der Besucher vom Hindukusch.
Schmickler und Stellwart verabschiedeten sich von dem Mann der sich Ismail nannte und verließen das Haus. Auf dem Weg zum Wagen fragte Herr Stellwart: „Haben wir das Richtige getan?“
Schmickler antwortete nachdenklich: „Es gibt hin und wieder Fälle, da ist meine Sympathie eher auf Seiten der Täter, als bei den Opfern. Das hier ist so ein Fall.“

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